04.07.2018: Boente - O Pedrouzo

Ich habe diese Nacht so gut geschlafen, dass ich aufrecht im Bett stehe, als ich aufwache: Alles ist leer! Niemand mehr da! Nur ich! Heideröslein!

 

Schnell die Zähne geputzt, gepackt und gefrühstückt und "schon" bin ich auch auf dem Weg und mache natürlich erst einmal Halt an der Kirche von Boente. Ich gucke mich um und bin schon ein bisschen schwerherzig: Als ich die letzten Male hier war, war hier immer ein schon deutlich älterer Pfarrer, der einen unfassbar harten Händedruck hatte. Einmal, bei meinem zweiten Camino Francés, ist er mir sogar hinterhergelaufen, hat mich zurückgeholt und mir mit einer anderen Pilgerin zusammen auf offener Straße den Pilgersegen gegeben. Das war total lieb! Er war total lieb! Heute ist er nicht da und ich traue mich gar nicht zu fragen, ob es ihm gutgeht, weil ich, glaube ich, die Antwort nicht hören möchte. Schon alleine der Gedanke macht mich traurig.

 

Bald kommt wieder eine Wegteilung und ich muss nun doch mal lachen, wie viel Mühe sich die Menschen geben, den Pilgern mitzuteilen, wie sie zu gehen haben. Da wird überpinselt und durchgestrichen und fett hingeschrieben: Hier lang! Freilich haben sich viele ihre Existenz darauf aufgebaut, die Santiago-Horden zu tränken, zu füttern und zu bebetten. Natürlich sind Pilger gerade in Nordspanien ein Wirtschaftsfaktor. Man braucht ja gar nicht viel zu rechnen: Wenn 30.000 Pilger in 10 Tagen auch nur 15,-- am Tag für Essen ausgeben, dann sind das 4,5 Mio. Hühner im Jahr bzw. 12.300 am Tag - und das ist nur ein Rechenbeispiel, denn da ist noch keine Übernachtung drin und die Preise in Spanien sind für mich Deutsche zwar immer wieder unfassbar niedrig, was aber wieder eine gute Gelegenheit ist, hier und da eine Tasse Kaffee mehr zu trinken. Dass das ganze schöne Geld dann zwar für die Pilger total schön durch die galicische Natur umgeleitet wird, schmeckt dann verständlicher Weise nicht jedem.

 

Ich kenne aber den Camino schon und gehe den Complementario, was eine guuute Idee ist.

 

 

Etwas später kommt ... Nein, es ist keine Wegteilung, sondern es gibt nur den Alternativweg und keinen Stein, der in eine andere Richtung zeigt. Hm. Ich finde es ein bisschen verwirrend, zumal der Complementario so verläuft, wie der Camino immer verlaufen ist. Und während ich stehe und überlege, weil das ja nun eine Gegebenheit ist, die ich so nicht so leicht in meinen Bauchfüßler hineinbekomme, ziehen nun doch auch durchaus Pilgerscharen an mir vorbei, voll fröhlicher Aufregung, morgen in Santiago anzukommen.

 

Morgen ankommen? Echt jetzt? Ich bin doch gerade erst losgelaufen!

 

Ich finde, Camino ist wie Kinderkriegen, er tut zuweilen ganz schön weh und zuweilen ist man über sich selbst erschreckt, zu welchen lautstarken und unflätigen Unmutsäußerungen man im Stande ist (also bei mir ist das jedenfalls so. Als ich etwa ein halbes Jahr nach der Geburt von Lüttchen eine Freundin in der Entbindungsstation besuchte, erzählte die mir, ihre Hebamme habe ihr von einer erzählt, die während der Entbindung unglaublich geschimpft hat. Dann ging die Türe auf, die Hebamme kam herein, guckte mich an, guckte meine Freundin an, zählte im Kopf eins und eins zusammen, presste nur noch ein "ich wusste nicht, dass sie sich kennen" heraus, machte auf dem Absatz kehrt und die Türe schloss sich wieder ... von außen. Ich hatte bei ihr bleibenden Eindruck hinterlassen. Und fragt nicht, welchen bleibenden Eindruck ich an so manchem Wegstück und Baum hinterlassen habe!), dann hält man sein Kind im Arm/steht vor der Kathedrale und denkt: Och, das war's schon? Alles Hässliche ist vergessen ... und das ist auch gut so, weil sonst würde die Menschheit sich von Generation zu Generation halbieren und es gäbe keine Wiederholungspilger.

Eigentlich würde ich euch hier gerne ein Foto reinstellen von einem Reitertrupp, der mich jetzt überholt, aber das sieht schon ein bisschen sehr gruselig aus: Wenn man die Gesichter alle wegretuschiert, werden aus Reitpilgern Geisterbahnwesen, die kopflos auf Rössern sitzen - uuuh!

 

Also zeige ich euch lieber ein kleines Kirchlein, das nur wenige Meter links vom Camino liegt (bei mir steht da heute am Abzweig eine Nonne mit einem Mädchen, das mich gerne zu ihm hinführt). Es ist Pelayo gewidmet, aber ich kriege jetzt nicht mehr zusammen, ob es der Pelayo ist, der das Grab des Apostels entdeckt hat, oder der, der die Reconquista (Rückeroberung Spaniens aus maurischer Hand) eröffnete. Ist auch egal, weil ich darf noch ein bisschen alleine in diesem Kapellchen bleiben und ein bisschen in mich gehen und das ist schön, auch ein bisschen gruselig, aber nur für mich. Gut, manchmal würde ich mir meinen Kopf auch gerne wegretuschieren, aber wenn ich mir das Bild mit den Reitern angucke, denke ich, ich lasse es lieber. Wer weiß, was dabei herauskommt, wenn ich meine Gedanken unkenntlich mache.

So dippel ich vor mich hin, erreiche Arzúa, trinke einen Kaffee und bin auch - schwups - schon wieder weg. Ich fand diese Stadt schon bei unserem ersten Camino ziemlich ... Herberge reiht sich an Herberge, nein, der ganze Ort IST eine Herberge und ich fühle mich wie ein Tourist auf Mallorca. Wenn ich das wollen würde, würde ich an den Ballermann fahren, tu ich aber nicht, will ich aber nicht, also hält mich hier nichts.

 

Merkt ihr das? Ich bin ein bisschen schwermütig. Das bin ich immer, wenn ich Santiago näher komme. Da tobt in mir ein, auch wenn dieses Bild jetzt so ganz und gar nicht zu einem Pilgerweg passt, wildes Gemetzel zwischen der Vorfreude anzukommen, es geschafft zu haben und der Bedrücktheit, dass der Weg dann ja zu Ende ist ... auch wenn dieses Ende für mich ja in diesem Jahr der Anfang zu etwas ganz Besonderem ist, worauf ich mich tierisch freue ... was die Gesamtschlacht in mir aber nun nicht wirklich besser macht. Und das Scharmützel von in meinem Bauch überträgt sich auf die Füße, die nicht wissen, sollen sie jetzt leichter gehen oder einfach stehen bleiben und sich jeder weiteren Bewegung schlicht verweigern. Und dieses Gezuchtel wird von Sekunde zu Sekunde schlimmer und macht die Beine von Schritt zu Schritt schwerer.

 

Darum blubber ich jetzt auch gar nicht mehr lange herum, sondern verbringe rasch meine letzte Nacht in meiner Lieblingsherberge in O Pedrouzo. Das ist doch nett. Und ich bin auch gar nicht lange alleine: Nach und nach trudeln eine ganze Menge von denen ein, mit denen ich in den letzten Tagen unterwegs war. Wo kommen die denn alle her? - Egal. Ist das schön, sie zu sehen! ... auch wenn sie hier und da genauso gucken, wie ich mich fühle. Es ist einfach komisch, wenn ein Camino zu Ende geht, und dabei kenne ich das ja nur von relativ kurzen Wegen. Nun stellt euch mal vor, wie es der jungen Frau geht, die in Deutschland von ihrer Haustüre aus gestartet und schon seit Monaten unterwegs ist! Unfassbar!