07.07.2018

Als ich gestern notdürftig in einer Tankstelle eingekauft habe, dachte ich noch, das sei eine gute Idee, weil es hier bestimmt nicht viel mehr gäbe. Aber kaum haben wir die Herberge verlassen, stoßen wir mit der Nase an einen großen Supermarkt ... und wackeln vorbei, weil wir ja nun nichts mehr brauchen.

 

Ruckzuck stehen wir vor dem ziemlich beeindruckenden Pazo do Cotón, eher eine Festung als ein Landhaus. Wenn ihr hier entlanggehen solltet, guckt ihn euch nicht nur von vorne an, sondern auch von hinten! Die Türmchen auf seiner Wehrmauer sehen ein bisschen aus, wie auf einer Zeichnung eines Kindes.

 

Sehr beeindruckt hat mich auch das Monumento al Emigrante gleich hinter dem Pazo. Es zeigt die Nuancen der Menschen, die ihre Heimat verlassen, nicht nur sprichwörtlich aus verschiedenen Seiten, von vorne, von hinten und unten zerfließen die Füße in Unsicherheit. Freilich beschäftigt es sich sicherlich nicht mit den Menschen, die gegenwärtig ihre Heimat verlassen müssen, sondern mit denen, die auf Columbus Wellen in die neue Welt segelten, und ich mag hier nicht eine Diskussion aufmachen, von denen wir gerade in Deutschland und gerade in den letzten Jahren mehr als genug haben, aber dieses Denkmal macht mich ein bisschen demütig. Demütig darüber, dass ich das große Glück habe, mein Leben in Sicherheit leben zu dürfen. Freilich gab es Zeiten, in denen ich wirklich auch Angst hatte, schließlich bin ich schon drei Tage älter und habe den Kalten Krieg schon sehr bewusst erlebt. Aber verglichen mit dem Leben anderer Menschen blieben mir Greuel erspart, ich habe genug zu essen, Kleidung, ein Dach über dem Kopf und muss nicht um das Leben meiner Leben zittern, weil die irgendwo in Uniforom Dinge erleben müssen, die ich mir nicht auch nur ansatzweise vorstellen möchte. Es ist nicht mein Verdienst, auf den ich stolz sein kann, weil ich ihn mir erarbeitet hätte, nein, es ist eine glückliche Fügung meines Lebensschicksals, für die ich demütig einfach nur dankbar sein darf. Ich finde, das vergessen Menschen, das vergesse auch ich im Trubel des Alltags viel zu oft.

 

Für mich sind das eh drei Dinge, die einfach aufeinander aufbauen und so wichtig sind: Demut, Dankbarkeit, Glück. Nur wenn ich demütig bin, nicht fordere, mich nicht aufblase, sondern klein mache, kann ich erkennen und wertschätzen, was ich habe, nur für das, was ich wertschätze, kann ich dankbar sein und nur wenn ich dankbar sein kann, bin ich zufrieden und glücklich - also ich jedenfalls.Wie soll man zufrieden sein, wenn man ständig an das Leben überzogene Ansprüche und Forderungen stellt, die es nicht erfüllen kann? Natürlich ist man dann nie zufrieden und folglich nie glücklich, weil man den Wert ja nicht erhält, der, wie man denkt, glücklich machen würde.

 

Aber mit diesen Bedingungen stehen wir uns doch ganz oft im Weg, oder? Ich bin nur glücklich, wenn... Nein, Kinders, das funktioniert nicht! Ganz viele Menschen setzen den Preis ihres Glücks so hoch an, dass es nicht erreichbar ist (vielleicht auch extra, weil man dann ja immer einen guten Grund zum Jammern und Schimpfen hat, was ja nun auch ein Lebensinhalt sein kann, kein schöner, aber immerhin etwas, womit man sich die Zeit vertreiben kann und was davon ablenkt, dass man, würde man diese Energie konstruktiv einsetzen, sich zwar bewegen müsste, dann aber etwas verändern könnte, was man aber eigentlich gar nicht will, weil man sich ja dann selbst der Gelegenheit beraubt, weiter zu jammern und zu schimpfen und man damit seinen Lebensinhalt verlöre. Da sag mal einer, Leben sei einfach!).

Ich will! Anderen geht es viel besser als mir! - Joa, stimmt. Andere haben teure Karossen, ich liebe mein Ömmchen (so heißt mein Auto) und bin froh, dass es schnauft. Andere haben ein Riesenanwesen und müssen in ihren Karossen erst endlos durch einen Park fahren, um endlich an ihrem Hausportal anzukommen, ich habe einen kleinen, ziemlich wilden Vorgarten, aber wenn ich aus der Türe gehe und Glück habe, ist gerade einer von meinen Nachbarn auch auf der Straße und wir sabbeln noch ein Weilchen miteinander. Andere fliegen in die Südsee und vertingeln ihre Tage mit Cocktails am Pool, ich latsche mit einem Rucksack durch Spanien ... und wisst ihr was? Für nix in der Welt möchte ich mit jemand anderem tauschen, und heute schon mal ganz und gar nicht, denn ich darf gerade das schönste Geschenk überhaupt genießen und zu sagen, dass ich dafür dankbar bin, wäre eine solche Untertreibung, dass mir grusselt.

 

Ja, anderen geht es viel besser als mir. Sie kaufen in Boutiquen und Feinkostparadiesen, ich bei Aldi, aber es gibt auch Menschen, die kaufen nicht, weil sie kein Geld haben zu kaufen, weil es rundherum kein heiles Geschäft mehr gibt, in dem man kaufen könnte, weil sie gerade viel zu sehr damit beschäftigt sind zu überleben, als dass sie kaufen wollen könnten. Bevor ich auch nur ganz leicht den Mund bewegte, um gegen sie zu wettern, würden Schamfurunkel meine Zunge derart anschwellen lassen, dass ich keinen Ton mehr artikullieren könnte (wobei, wenn ich mir so manchmal die Sprache anhöre, geht es offensichtlich nicht nur mir ....). 

 

Mir fällt da gerade eine Situation ein (was sicher auch daran liegt, dass er neben mir läuft): Als Dennis eine Blutkrise (nichts Schlimmes, ist "nur" eine Erbgeschichte) hatte, saß ichmit ihm in der hämatologischen Abteilung der Klinik und war ziemlich verzweifelt. Da kam eine Dame mit einem kleineren Kind herein, guckte mich an und sagte: "Frau Ilchmann, was machen Sie denn hier?" Sie war sichtlich geschockt. SIE war sichtlich geschockt, MICH und Dennis hier zu sehen. Aber glaubt mir: Beim Anblick ihres Sohnes verging mir jede Verzweiflung. Aber SIE war geschockt, UNS hier zu treffen! - Das war ein Moment ...

 

So, jetzt habe ich mich aber komplett verdüddelt und bin irgendwo, von wo ich den Weg wieder zurück zum Weg finden muss. Uff. Gar nicht so einfach.

 

Zweimal gar nicht so einfach, wenn man sich dann auch noch vor einer Wegteilung wiederfindet.

 

Direkt hinter dem Fluss müssen wir uns entscheiden, ob wir mit dem Camino auf der Straße bleiben oder mit einem Alternativweg rechts ... Das sieht viel kuscheliger aus! ... und ist es garantiert auch, denn wir spazieren erst ein ganzes Stück am Río Baracala entlang und dann auf Fußpfaden quer durch den Wald, bevor wir durch Wiesen und Felder in Zas wieder auf die "normale" Route stoßen.

 

Kinders, diese Strecke war so schön - es gehört sich vielleicht nicht, das hier so zu sagen, aber vergesst den Camino und geht den Alternativweg! - Es sei denn, ihr geht gerne auf Asphalt, dann folgt lieber weiter den Muscheln.

So, und jetzt zeige ich euch etwas, was viel wertvoller ist als Kaviar, viel besser als ein 6-Gänge-Menü eines Superduperkochs. Es ist ein bisschen schwer zu erkennen, aber das sind zwei Leckerschneckchen, die mir Dennis an einem schon ein bisschen knackigen Anstieg auf einem Stein hinterlassen hat. Und jetzt sagt: Ist das mit irgendetwas auf dieser Welt aufzuwiegen? - Nein, ganz bestimmt nicht! Gut, als ich sie mir in den Mund stopfe, ist da nur ganz wenig Demut (weil es ziemlich blöde ist, sich auch noch etwas in den Mund zu stopfen, wenn man eh schon keucht und nach Luft schnappt wie ein Dampfross), aber wenn ich dafür nicht dankbar wäre, dann wäre bei mir doch echt Hopfen und Malz verloren und nichts, und sei es noch so raffiniert kreiert und augenweidisch auf einem goldenen Teller angerichtet, nichts könnte mich so glücklich machen!

 

Bis zum Mittag begleitet uns eine junge deutsche Pilgerin. Sie trabt mal mit Dennis voraus und schleicht mal mit mir hinter ihm her, dann ist sie auch mal wieder ganz weg und pilgert für sich alleine. So mag ich das.

 

Besonders, wenn ich durch das dritte Dorf laufe, in dem es noch immer keine Bar gibt. Ich will Kaffee (und vergesse alle meine hochheiligen Gedanken über Demut, Dankbarkeit und nichts zu fordern oder zu wollen, ich will, jetzt sofort und das ein bisschen dalli!). Ein Herr schaut mir erschüttert hinterher, als ich so vor mich hinschimpfe, aber eine Bar zaubert sich davon auch nicht auf den Weg. Erst in Piaxe, nach 8 koffeinfreien Kilometern!, hat das Leben und der Camino Erbarmen mit mir und ich sitze - schwups! - neben meinem Kind und freue mich auf Café con Leche und einen Toastada. Wurde auch Zeit!

 

Nach nur etwas mehr als einem Kilometer teilt sich der Weg erneut. Ich gucke in meine Unterlagen (ich bereite meine Wege ja immer halbwegs druckreif vor, gucke, ob es funktioniert, sehe, dass es das nicht tut und schreibe den ganzen Krembembel noch einmal neu) und lese Straße, Straße, Straße. Nein, von Asphalt hatte ich in den letzten Tagen mehr als genug! Also entscheiden wir uns für den Alternativweg. Mehr Asphalt als auf dem Camino kann der auch nicht haben!

 

Hat er auch nicht. Gut, er ist jetzt nicht sooo ein Genuss wie heute morgen, verläuft auf einem breiten Staubweg und ist schon auch ein bisschen hinterhältig, denn er führt über mehrere Bodenwellen, aber so, dass man die nächste erst sieht, wenn man die letzte ganz hinaufgestackst ist und denkt, nun sei man aber endlich oben. Aber Staub ist eben doch kein Teer, nicht viel weicher und angenehmer, aber doch ein bisschen.

 

In Vilaserío gibt es ein Mittagseis in einer Bar. Da kommt ein älterer Herr und das Gesicht der jungen deutschen Pilgerin überstrahlt sich selbst. Die beiden kennen sich und sind gegenseitig total aufgeregt, der Herr so sehr, dass er sofort seine Frau anruft (sie haben es sich bereits in einer Herberge gemütlich gemacht) und die kommen muss, um die Freude mit ihnen zu teilen. Das ist so schön! Und so buckeln also nunmehr nur noch wir beide erneut unsere Rucksäcke und gehen weiter.