28.06.2018: La Mesa - Grandas de Salime

Kennt ihr das, wenn man morgens aus der Herberge tritt und sich am liebsten auf der Stelle wieder umdrehen möchte? Genau so ging es mir heute morgen. Das wirklich Blöde ist, dass ich den Weg ja schon kenne und genau wusste, dass die heutige Etappe zwei lange Straßenpassagen hat, von der die erste gleich an der Herberge beginnt und bergauf führt. Bergauf quasi noch vor dem Aufwachen ist so gar keine gute Idee! 

 

Ein amerikanisches Ehepaar vertrieb mir allerdings gleich hinter der Herberge die dustere Stimmung. Ich glaube, ich habe selten ein Paar erlebt, das so viel Spaß miteinander hat wie die beiden ... nicht nur heute! Sie hält von hinten seine Stöcke in der Hand und lässt sich von ihm den Buckel hinaufziehen und dabei finden sie sich selbst so lustig, dass sie sich schier ausschütten vor lachen. Meine Lieben, wenn man so viel positive Energie in sich hat, dann färbt man einfach auf andere ab. Unglaublich! Ich liebe sie vom ersten Augenblick an!

 

Allerdings sind sie sehr viel schneller als ich und - wutsch - irgendwo gaaanz viel weiter vorne als ich und mir bleibt nur die Freude auf Buspol und den ersten Blick von diesem niedlichen Kirchlein hinunter auf den Stausee. Ein schöner Gedanke ... also eigentlich. Aber er hat zwei Haken: Erstens hat sich die Wolkensuppe, in der ich schon gestern und vorgestern herumschlappte, festgefressen und lässt schon ohne Stausee so gut wie gar keine Sicht zu, zweitens wird der Camino vor Buspol um- und in einem riesigen Bogen irgendwo hin geleitet, dass ich, ich bin mutterseelenallein und niemand um mich herum, an dem ich mich orientieren könnte, manchmal echt zweifle, ob ich nicht irgendwo ein Zeichen übersehen habe.

 

Habe ich ich aber nicht und später weiß ich auch, warum ich so alleine bin: Der eigentliche Weg funktioniert auch  und die Umleitung ist irgendwie wohl nur ein Überbleibsel von etwas, was längst vorbei ist. So ein Käse! - Allerdings erfahre ich das erst in Grandas de Salime und da spielt es ja dann auch keine Rolle mehr, denn dann bin ich ja dort und angekommen.

Dafür hatte ich ab irgendwo nette Begleitung: Vor mir standen plötzlich zwei Ziegen und sind vor mir mit Sicherheit genauso erschrocken wie ich vor ihnen. Aber dann haben wir uns nach angefreundet und ein ganzes Stück Weg miteinander geteilt. Wenn ihr jetzt denkt, 'mit stinkenden Ziegen?!',kann ich euch versichern, dass mein Duft für sie mit Sicherheit unangenehmer war. Santiago und dann ich haben uns zwar gestern eine Waschmaschine geteilt, aber frisch riechen riecht irgendwie trotzdem ganz anders und ist eines der Dinge, die ich auf meinen Wegen immer am meisten vermisse. Einmal habe ich mich mit Fee, einem ganz lieben Pilgerfreund, in Santiago mit der Nase durch die Kleider eines Geschäftes geschnüffelt, weil die so ... unverschwitzt rochen. Normalerweise würde ich nicht behaupten wollen, dass das jetzt ein Duft war, aber für den Moment, nach drei Wochen mit der Hand ausgewaschenen drei T-shirts, drei Unterhosen und drei Paar Socken, war der müffelige Geruch neuer Kleidung schier wie der Himmel auf Erden.

 

Zu guter Letzt stoße ich am Ende, nach gefühlt unendlich vielen zusätzlichen Kilometern, wieder auf den Camino, stapfte über die Staumauer und falle durstig in der Bar ein Stückchen weiter oben ein, um mich für die zweite Straßenpassage zu wappnen. Mit Knöpfen in den Ohren bin ich auch leidlich vom Asphalt abgelenkt (in Momenten wie diesen könnte ich den knutschen, der MP3-Player erfand! Heideröslein!, erinnert ihr euch noch an die ersten Walkmen? Da kamen Cassetten rein! Das weiß heute kein jüngerer Mensch mehr, was das ist!  Und eine meiner Lieblingserinnerungen ist, wie unser Leben Felix von seiner ersten Zeltlagerwoche wieder nach Hause kam (mit völlig aufgeschrubbten Füßen, weil er bei größter Hitze nicht ein einziges Mal seine Socken gewechselt hat) und mir stolz eine Schallplatte überreichte mit dem Titel "So schallt's im Salz" (sie waren in einem Salzbergwerk) und dem Kommentar, er wisse ja, dass wir keinen Plattensieler haben, aber er habe sie trotzdem gekauft (wir hatten und haben einen Plattenspieler und den geb ich auch nicht her, weil ich in meinen Lieblingsplatten jeden Kratzer und jeden Hüpfer kenne und wenn ich die Lieder mit ohne die höre, ist das zwar schön, aber dieses Gefühl im Bauch ... Nein, das kriegt man digital nicht hin). 

 

Ähm, wo war ich? - Ach ja, mit meinem MP3-Player und den Knöpfen im Ohr bin ich doch auch zumindest leidlich gut vom Asphalt abgelenkt. Vielleicht ist das nicht so wirklich fein pilgerlike, aber ich liebe meine Musik (mit Fleetwood Mac hüpfen die Füße  fast ganz ohne mich)  und mein Hörbuch ("Der Schatten des Windes" - Erstens liebe ich Zafón und zweitens ist es wunderschön gelesen und ich erschrecke immer wieder, wenn es an die Stelle kommt wo .... Nee, das verrate ich euch nicht!

Dann ist auch dieses Stück geschafft und als Kür muss ich nur noch schnell über einen Wanderpfad und bin - schwups! - in Grandas de Salime. 

 

Eigentlich ist mir hier jetzt gerade so gar nicht wirklich nach einer Pause, aber an einem Tisch vor einer Bar finde ich das amerikanische Ehepaar von heute morgen wieder und die beiden winken mir so lieb zu, da muss ich mich einfach zu ihnen setzen.

 

Es klingt vielleicht ein bisschen komisch, aber manchmal ist mir wirklich, als meinte es der Camino von Herzen gut mit mir, denn hätte ich die beiden nicht gesehen, wäre ich vielleicht einfach weitergegangen nach Castro, wo es mir letztes Mal besonders gut gefallen hat. Aber es kommt anders: Aus dem wilden Gequassel um mich herum filtere ich heraus, dass dort bereits alle Betten belegt sind. Das passt mir jetzt irgendwie so gar nicht, ich gehe in die Bar und bitte den Wirt, trotzdem für mich anzurufen. Der aber schüttelt nur den Kopf: Es sei noch gar nicht lange her, da hätte er es für ein Pärchen auch probiert. Also so ein befreundetes Pärchen, so ein richtiges Pärchen, nein, das könnte er sich nicht vorstellen. Ich frage, ob der Pärchenmann gut Spanisch gesprochen hätte. Da guckt er mich an und sagt: "Du bist Andrea, oder? Ich soll dir sagen, sie sind in der Albergue municipal und warten dort auf dich", also so auf Spanisch und von mir nicht unbedingt im Wortlaut wiedergegeben, sondern frei aus "Andrea", "Santiago" und "Albergue municipal" zusammengesetzt. Aber wäre das alles nicht so gekommen, wäre ich glatt weitergelaufen und hätte in Castro ziemlich blöd aus der Wäsche geguckt, hätte noch 20 km bis zur nächsten Herberge gehabt und mich unterwegs wahrscheinlich mit dem Gesicht in einen Kuhfladen gestürzt, wo mich morgen früh entsetzte Pilger gefunden hätten und dann wäre ich womöglich in die Bild-Zeitung gekommen mit dem Headliner: "Deutsche Pilgerin suchte verzweifelt den Freitod in Kuhsch...!" - Der Camino meint es eben manchmal einfach gut mit mir!

 

Darum hier ein Tipp für alle Nachmirgeher: Wenn ihr in Castro übernachten wollt, dann ruft unbedingt rechtzeitig an und macht dort eine Matratze für euch klar!

 

So laufe ich also nicht lange später in der Herberge ein, wo K. und Santi schon auf mich warten. Schnell das Bett bezogen und unter die Dusche gehüpft, schon bin ich reif für meine erste Portion Pulpo! Naja gut, er wird hier noch auf einem richtigen Teller serviert und ich bin hinterher froh, dass ich den kochenden Wirt nicht schon vorher gesehen habe, aber er schmeckt klasse! Und ich darf ihn großzügig ganz alleine essen, denn Santi und K. finden die Tentakel mit den Saugnäpfen nur noch eklig. Das ist jetzt auch gerade mehr als gut so.

 

Zwischendurch versuchen wir, meinen Foto, den ich wohl irgendwie zwischendurch geschrottet habe, wieder zum Laufen zu bringen, aber irgendwann geben wir auf und suchen uns noch eine Bar, in der wir uns häuslich und ratschend niederlassen. Am Nebentisch sitzt ein einsamer Pilger und guckt aufmerksam Löcher in die Luft. Meine Lieben, das geht gar nicht! Also für mich zumindest nicht. Ich kann mich doch nicht hinsetzen und Spaß haben, wenn nebenan einer alleine sitzt! Also normal schon, aber nicht, wenn ich auf einem Camino bin (auf meinem Camino Portugues hab ich mich damit bei einer Mitpilgerin einmal voll in die Nesseln gesetzt. Da saß auch ein Amerikaner alleine am Nebentisch. Ich kannte ihn von unterwegs, aber er hatte seinen Camino komplett durchorganisiert mit Übernachtungen in Hotels und Casa Rurals und allem drum und dran. Ich bin nicht der Meinung, dass mir über ein solches Vorgehen ein Urteil ansteht, denn ich stecke ja nicht in seiner Haut. Was mir ansteht ist aber meine Meinung über ihn: Er war total nett, wir haben unterwegs viel miteinander gelacht und zwischendurch auch mal eben nicht. Nun saß er also, weil es nur ein kleines Örtchen mit nur einem Restaurant war, am Nebentisch - ein absolutes No-Go! Auch wenn ich ihn nicht so sehr gemocht hätte, wäre das ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Also stand ich auf und ... Naja, ich bat ihn auf meine Weise an den Tisch (der arme Kerl hatte gar keine andere Chance als sich zu uns zu setzen, ich kann da schon auch nachdrücklich sein), was einer Mitpilgerin schwer missfiel. Ich hätte sie um ihr Einverständnis fragen müssen. Hallo! Nachdem ich ihr erklärte, dass es so gar nicht geht, einen Mitpilger alleine am Nebentisch sitzen zu lassen, machte sie mich auf einen nichtpilgerischen Herren aufmerksam, den ich ja dann auch zu uns rufen müsste. Da schnallte ich es erst: Die hat echt gemeint, ich bin auf dem Camino auf eine schnelle Herrenbekanntschaft aus. Ha! Meine Lieben, ich bin mit vier Männern mehr als gesegnet und ausgefüllt, da brauche ich keinen schnellen Pilger für zwischendurch!) (überflüssig zu erwähnen, dass wir auf dem Rest unseres gemeinsamen Weges (aber ich bin dann ja auch auf den Espiritual abgebogen) nicht mehr allzu viel miteinander sprachen. Es gibt einfach Dinge, die kann und möchte ich nicht verstehen).

 

Huch, jetzt habe ich mich wieder verloren. Wo bin ich denn? - Ach da: Ich  gehe also an den Nebentisch und spreche den Herrn, wie sich das auf dem Camino in Spanien gehört, in englisch an, ob er sich nicht zu uns setzen möchte. In diesem Moment tut es einen Schlag und die Erde vibriert ein bisschen unter meinen Füßen, weil ihm ein solcher Stein vom Herzen gefallen ist. Er kommt zu uns und stellt sich vor und in diesem Moment, in dem er seinen Namen sagt, weiß ich genau, wer er ist. Dieser Dialekt ist unverkennbar: Es ist der Herr aus Schwaben, der mich kurz vor dem Puerto del Palo mit dem Höhenmesser in der Hand überholte! Und so sitzen wir nunmehr zu viert um den Tisch herum. Nein, wir sind leider heute nicht in den Genuss des gemeinsamen Essens in Castro gekommen, aber ich versichere euch, wir haben auch ein leckeres Abendessen und viel Spaß!

 

Oh, übrigens war der Seitenblick-Spanier von gestern auch auf dem Platz, als ich in Grandas ankam. Ich habe ihn auch, wie alle anderen, freundlich gegrüßt, aber er zog es vor, in eine andere Richtung zu gucken, was ihm auch dann nicht langweilig wurde, als ich mich mit seiner Begleiterin unterhielt (Santiago meint, sie hätten sich sicher erst auf dem Weg getroffen und er versucht sie als sein Revier abzustecken). Ich glaube, er sollte mal einen Camino machen, das würde ihm sicher guttun!

 

Und noch eins: Wenn ich mir die Suppenschwaden so angucke, die mich jetzt immerhin schon drei Tage begleiten, muss ich doch mal darüber grinsen, dass ich echt Bedenken hatte, so weit im Sommer zu laufen. Kurze Hose und T-Shirt gehen schon, aber in den Pausen bin ich doch auch dankbar für eine Jacke. Dabei habe ich wohl richtig Glück. Vor ein paar Tagen in Bodenaya erzählte mir David, dass es gerade vor drei Wochen noch so kalt war, dass er sich schon überlegte, ins sonnige Deutschland auszuwandern. Aber dass das Wetter in diesem Jahr nicht normal ist, "durften" wir ja schon vor Ostern auf unserem Camino Mozárabe spüren.