24.06.2018: Cornellana - Bodenaya

Dank meiner Ohrstöpsel und meinem Tuch über die Augen habe ich vom Fest-Radau direkt vor dem Fenster nichts mitbekommen. Ich finde sowieso, dass das eine Gabe ist, für die ich sehr dankbar bin, dass ich sie haben darf: Ich kann Geräusche um mich herum ausblenden ... so sehr, dass ich als junge Frau mühelos in einer Discothekque direkt neben den Lautsprechern schlummern konnte, weil es Thomas gerade gar zu sehr dort gefallen hat. Eine gute Sache ist das!

 

Entsprechend frisch und munter verlasse ich die Herberge, was aber heute auch schon ein bisschen ekelig ist, denn die Veranstalter der Fiesta de San Juan haben vergessen, Dixi-Klos aufzustellen. Aber das sind ja nur wenige Meter und schon bin ich auf der Straße nach Sobrerriba.

 

Noch bin ich mit mir alleine, was sich aber hinter Llamas ändert. Hier ist schon jemand da, da kommt jemand von hinten, hier gehen wir mal ein Stück gemeinsam, da sind die anderen wieder schneller als ich, dafür sitzen sie ein Stück weiter im Schatten eines Baumes, lassen es sich wohl ergehen und holen mich später wieder ein und über. Ich mag das: Auf dem Camino ist man immer nur so alleine, wie man mag. Auch wenn sich die, die mich kennen, das nur ganz schwer vorstellen können: Ich bin furchtbar gerne in Gesellschaft und bestimmt nicht auf den Mund gefallen, aber ich kann sehr gut und gerne mit mir alleine sein.

Zur Mittagspause sind wir wieder alle zusammen, eine große, wilde Horde in einer Bar vor der Kirche. Eine junge Italienerin hat leider schon ziemlich beeindruckende Blasen an den Füßen. Sie holt sich Pflaster in der Apotheke und beschließt ansonsten sie schlicht zu ignorieren. Als auch der Letzte der Gruppe irgendwann schweren Schrittes eingetrudelt ist (uuuuh, ich glaube, der wusste das Johannisfest auch in der Herberge gebührend zu feiern und leidet noch ein wenig ... nicht am Sonnenwendfeuer-, sondern am Nachbrand) und ausgiebig gerastet hat, brechen wir langsam wieder auf. Als ich bezahle, bekomme ich noch eine Banane geschenkt! Ist das nicht lieb?!

 

Wenige Schritte weiter mache ich einen Schlenker, um Miguel in seiner Herberge zu besuchen, aber er ist leider nicht da und die Türe verschlossen. Schade! Aber ich habe gelesen, dass er und seine Frau das Angebot der Herberge um ein vegetarisches Abendessen und gemeinsame Meditationen und Yoga-Stunden erweitert haben. Ich hätte ihn gerne genauer dazu befragt, aber ich kann es mir sehr gut vorstellen. Die beiden sind sehr, sehr herzlich und lieb, echte Hospitaleros eben.

 

 

Ich glaube, das sollte ich hier kurz erklären: Hospitaleros werden ganz oft (leider auch von mir) als Herbergseltern übersetzt, was aber eine schamlose Nichtachtung dessen ist, was sie eigentlich sind. Hospitaleros kommt von Hospital, also den Orten, in denen Pilger in Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat und noch niemand an Centros de Saluds (Ärztehäuser) gedacht hat, aufgenommen wurden und nicht nur Mahlzeit und einen sicheren, warmen Platz zum schlafen fanden, sondern vielmehr von den Hospitaleros gesundgepflegt, wieder aufgepäppelt und für ihren weiteren Weg nach Santiago lauffein gemacht wurden. Nicht jeder Herbergsbetreiber ist ein solcher Hospitalero, aber die, die es sind, sind die guten Geister der Caminos, die seinen Spirit leben und weitergeben.

 

Miguel und seine Frau sind solche Hospitaleros. Ich habe bei ihnen übernachtet, nachdem sie einen Pilgerfreund von mir zum Arzt gebracht und seine geschundenen Füße wieder in Ordnung gebracht hatten, und traf dort einen Pilger, der schon einige Tage bei ihnen untergebracht war, weil er nicht weitergehen konnte.

Beinahe würde ich hier schreiben, dass ich froh und dankbar bin, dass es mir noch nie wirklich schlecht auf dem Camino gegangen ist, aber dieser Tag ist noch nicht zu Ende und bringt mich durchaus an meine Grenzen.

 

Der Weiterweg fängt sehr harmlos an und fürht lauschig und schattig durch den Wald - keine schlechte Idee für Tage mit Temperaturen wie heute. Es geht auch lange flott voran, stetig aber mäßig bergan, was mit der Zeit schon anstrengend wird, aber nicht wirklich schlimm. Das ändert sich allerdings nach einer engen Linkswende des Weges. Heideröslein! Es ist nicht lange, aber bis ich das nicht lange hinaufgekraxelt bin, habe ich mindestens 5 Liter Wasser und einige unschöne Ausdrücke verloren.

 

Oben an der Straße finde ich links von ihr im Schatten der Bäume ein altes Gemäuer, in das ich mich zurückziehe, um still und heimlich vor mich hinzusterben, wenn nicht gleich sofort und auf der Stelle, dann doch zumindest innerhalb der nächsten Jahre, denn ich werde mich hier nie, nie, nie wieder wegbewegen!

 

Aber nun, Kinders, es nutzt ja alles nix, irgendwie muss ich ja weiter. Also packe ich meinen Rucksack wieder auf den Rücken und ...

Nein, manchmal ist es nicht gut zu wissen, wie der Weg weitergeht. Zumindest weiß ich diesmal, wo ich mich letztes Mal verlaufen habe und kann dieses Risiko ausblenden, aber das macht die Strecke nicht wirklich schöner ... und schon gar nicht schattiger. Irgendwann beschließe ich einfach: Augen zu und durch, lauf, so schnell du kannst, umso schneller hast du es hinter dir ...

 

Ein Stück vor der Herberge fange ich in all der Hitze an zu frieren. Das ist nicht gut! - Aber ich bin doch fast da! - Das ist nicht gut! - Es ist nicht mehr weit! - Doch! Ist es!

 

Ist es auch, zumindest gefühlt, aber so wirklich eine Alternative zum Weitergehen habe ich auch nicht, denn schattenlos bleibt auch bibbernd schattenlos und ein Stop kostet beim neuerlichen Anlaufen einfach zu viel Kraft.

 

Als ich bei David ankomme, bin ich allerdings heidenfroh, dass gerade niemand draußen ist, ich in Ruhe meinen Rucksack abstellen und mich erst einmal wieder sammeln kann. Es gibt Momente, da muss mich niemand sehen.

 

Bevor ich weiterschreibe schon mal vorweg und vielleicht zur Erklärrung dessen, was für mich schier unfassbar ist: Davids Albergue ist meine absolute Lieblingsherberge auf dem Camino Primitivo und wer einmal dort war, weiß warum. Er und seine Lebensgefährtin Célia verbreiten nicht nur den Spirit des Caminos, sie leben ihn und das mit aller Leidenschaft. Und diese Leidenschaft macht, dass David mich anguckt und sofort sagt: "Ich kenne dich, du warst schon einmal hier!" und nur wenige Augenblicke weiter weiß er auch ohne mich, wie ich heiße. Für mich ist das Unfassbar! Überlegt euch doch mal, wie viele Pilger hier täglich ankommen und am nächsten Morgen wieder gehen! Überschlagt das für ein Jahr und nehmt diese Zahl mal drei, denn ich war im September 2015 das letzte Mal hier. Unglaublich! - Naja, aber es geht euch bestimmt auch so: Schöne Dinge verblassen mit der Zeit und man vergisst sie, schlechte dagegen bleiben immer taufrisch im Gedächtnis.

 

Apropos taufrisch: Nach dem einen und anderen alkoholfreien isotonischen Kaltgetränk und der einen und anderen Zigarette fühle ich mich auch wieder taufrisch und als alle anderen auch angekommen sind (die haben es richtig gemacht und sich unterwegs erfrischender Weise unter und an einem Wasserfällchen ausgeruht!), sitzen wir draußen und - ich sage jetzt mal singen, weil mir kein wirklich passendes Wort einfällt (nein, gröhlen würde auch nicht passen, weil wir ja zumindest versuchen, ein bisschen die Melodie zu treffen) - singen lauthals Lieder zur Gitarre, die David einem der Italiener unvorsichtiger Weise in die Hand gedrückt hat und die bei dieser Session leider gleich zwei ihrer Saiten verliert.  Und das sieht zuweilen sehr lustig aus, denn einer hält sein Handy so hin, dass alle anderen, die Köpfe dicht zusammengedrängt, draufgucken und den Text lesen können. Heideröslein!, wir mussten noch immer die Mundorgel mitschleppen oder Texte von den Plattencovers herunter auswendig lernen! Gut, bei den meisten hört die Textsicherheit gleich mit dem Refrain auf, nur bei manchen merkte man sich zumindest die erste Strophe, aber das ganze Lied ... können heute nur noch die Jungs von damals, die heute im Chor älterer Herren singen.

 

 

So vertrödeln wir singend, lachend und schwätzend die Zeit, bis es endlich, endlich Abendbrot gibt. David und Célia kochen für alle und es wird gemeinsam gegessen (auch das Frühstück; um welche Zeit es gegessen werden soll, stimmen die Pilger am Vorabend selbst ab, was nicht immer leicht ist, weil manche ja doch schon auch mit Kopftaschenlampe starten, während andere den Tag gemächlicher angehen), was eine wirklich ganz tolle Sache ist .... und noch toller wäre, wenn die beiden aus Deutschland statt aus Spanien kämen und die dampfenden Schüsseln um 18.00 statt um 20.00 Uhr auftragen würden. Und aufgetragen heißt nicht auch schon aufgetan: Auch eine tolle Sache ist, dass es vor dem Essen eine Runde gibt, in der sich alle vorstellen und von ihrem Camino und ihren Pilgergründen erzählen, was sie erzählen möchten ... was gerade bei den Spaniern etwas länger dauern kann, weil die eben nicht um 18.00 Uhr schon mit den Füßen scharren, weil sie Hunger haben, sondern eher erst um 21.00 Uhr essen, was um 20.00 Uhr bedeutet, dass sie eigentlich erst in einer Stunde Hunger bekommen und sich nur am Rande über die merkwürdigen Geräusche wundern, die der eine oder andere deutsche Bauch so von sich gibt, jedoch über genug Respekt verfügen, diesen Umstand in ihren weitschweifigen Erzählungen nicht weiter zu thematisieren und das Knurren höflich zu ignorieren.

 

Neinnein, mal im Ernst: Es ist unglaublich, was für einen Camino-Lebenslauf manche auf dem Buckel haben. Als mich heute ein deutlich älteres, deutlich umfangreicheres Ehepaar überholte (die allerdings nur ganz kleine Rucksäcke auf dem Rücken hatten), dachte ich noch, 'haben die es gut, die machen nur einen kleinen Spaziergang und sind bestimmt bald wieder daheim'. Nie im Leben - NIE IM LEBEN!!!! - hätte ich damit gerechnet, sie hier am Tisch (also viele Kilometer weiter - nur mal eben: Die hatten mich überholt und zwar nicht nur so mit Hängen und Würgen, sondern auf eine so leichtfüßige Weise, dass ich meine Scham nur damit aushalten konnte, dass ich mich hinter meinem Rucksack versteckte, den man ja nunmal in einem eben solchen Gewicht braucht, wenn man mehrere Tage unterwegs ist) wiederzutreffen. Als ich ankam, waren die längst hier und sahen so gar nicht mitgenommen aus! Mit der gutmütigen Einleitung seiner Frau, "er ist ein bisschen Camino-verrückt" (ich bin sicher, sie hat ihn auf den meisten seiner Wege begleitet) erzählt der Herr, dies sei sein 26-ter Camino. In Worten: Schechsundzwanzigster! Davon x Caminos Francés, y Caminos Primitivo, der Camino Mozárabe war auch dabei, mehrere Vias de la Plata .... Unglaublich! Solche Menschen machen mich ganz klitzeklein!

 

Bei dieser Zahl komme ich mir ein bisschen komisch vor, aber das ist mir heute irgendwie irgendwann eingefallen: Ich werde nach diesem Camino zum siebten Mal in Santiago ankommen (also eigentlich zum achten Mal, aber ein Mal zählt nicht für mich persönlich, weil ich diesen Weg für einen sehr lieben Menschen gegangen bin). Wenn man also in den Himmel kommt, weil man nach Santiago gepilgert ist, komme ich jetzt in den siebten Himmel! Wie passend, dass mir das gerade auf dem Weg zu dieser Herberge in den Kopf kam!