02.10.2015 Santiago

Eigentlich wollte ich morgens früh aufstehen und die deutsche Messe in der Kathedrale besuchen, aber dann ... Wer schläft, sündigt zumindest nicht. Und ich für meinen Teil lebe noch immer ein unsündiges Leben, A., B. und T. schon längst am Frühstückstisch sitzen ... aber nicht lange genug, dass sie mir entgehen. Wir haben einen ganzen Tag in Santiago! Und wir brauchen keinen Rucksack mehr zu tragen! Wisst ihr, was das heißt? - Shopping ist angesagt!

 

Wir beginnen in den Markthallen, die man wirklich gesehen haben muss. Heideröslein!, ihr glaubt gar nicht, was es da alles gibt! Würde ich hier leben und hätte ich hier meine Küche, mir wären Schweine und Rinder egal (besonders dann, wenn sie, als "glücklich" bezeichnet, gebraten oder gegrillt auf meinem Teller liegen würden).

 

Das hier sind keine Schweinsfüße (auf hessisch Säufießjer - oh, die habe ich als Kind geliebt!), sondern Percebes, Entenmuscheln. Die haben mich neugierig gemacht und darum habe ich ein bisschen geguckelt und folgendes gefunden:

Sie sind eine der teuersten galicischen Delikatessen. „Das hässlichste Essen, das ein Mensch je zu Gesicht bekam" (James A. Michener) wächst zwischen scharfen Felsplatten und Kanten dort, wo das Meer am tosendsten tost. Darum arbeiten die Percebeiros immer zu zweit: Einer taucht und sticht sie mit langen Spachteln, einer bleibt im Boot und hält den Stecher an einem Seil. Trotzdem kommen nicht ale Percebeiros wieder heil und gesund nach oben. Früher soll es Arme-Leute-Essen gewesen sein, heute ist es das ganz bestimmt nicht mehr.

 

Sie werden nur mit etwas Lorbeer in Salzwasser gekocht und sollen dann so sein, als würde man den ganzen Ozean schmecken. Oookayyy. Lach!: Helmut Kohl soll, als man sie ihm kredenzte, ein bisschen "merkwürdig" auf seinen Teller gestarrt haben - also den Teller, mit den Muscheln drauf, nicht den mit der Rechnung (lt. mare.online.de, wo ich die meisten Infos hier rausgezogen habe, aus 2001 (also noch zur Vor-Eurozeit), kostete eine Portion damals 50,-- DM!)! Ein Saumagen wäre ihm sicher lieber gewesen!

Essen tut man übrigens nur das in den Röhren, nicht das, was oben und unten herausguckt (eine Seite sind die Verdauungs- und Geschlechtsorgane) und das mit der Hand, wobei die Muschel dann wohl noch ab und an mit einer rötlichen Flüssigkeit um sich spritzt. "Selbst feinste Luxusrestaurants sehen deshalb generös über den Fauxpas einer als Lätzchen missbrauchten Serviette hinweg" 

 

Ach, manchmal macht die Recherchiererei einfach Spaß! Und fotografieren auch: Der Verkäufer hier hat einen "Heiligenschein" der besonderen Art! Oder war der Heilige Geist seines Daseins in Form einer Taube überdrüssig?

 

Und was auch noch ganz klasse ist, ist das hier:

 

 

 

Man kann bei der Zubereitung meines absoluten galicischen Lieblingsgerichts zuschauen ... und ihn natürlich auch essen: Pulpo!

(Hihihihihi! Jaja, der Jüngling mit dem weißen Mützchen sieht auch knackig aus, allerdings ist der Altersunterschied zwischen ihm und mir garantiert größer als der zwischen dem Herrn in O Pedrouzo und mir. - Nee, ich komm da noch nicht drüber weg!)

 

Eigentlich wollte ich um 12.00 Uhr zur Pilgermesse, doch auf dem Kathedralenvorplatz treffe ich auf Andre, den wir auf dem Hospitales zum ersten Mal trafen. Er ist gerade angekommen und schaut jetzt ein bisschen ratlos die größtenteils eingerüstete und -geplante Hauptfassade hinauf. Er hat einen sehr langen Weg hinter sich, denn er ist von Zuhause gestartet, was irgendwo in Holland ist. Gegen ihn bin ich ein Eintagsfliegenpilger. Ich lege ihm die Hand auf den Arm und frage, ob er in Ordnung ist. Er spricht nicht viel, aber er fragt mich, ob ich mich mit ihm ein Weilchen auf eine Bank setze. Das tu ich gerne. So sitzen wir schweigend eine lange Weile. Es hört sich vielleicht aus meinen Fingern komisch an, aber gemeinsam zu schweigen ist so ... dicht beieinander. Wisst ihr, was ich meine? Man kann reden und reden und dabei ganz weit weg voneinander sein, dem anderen nicht zuhören, aneinander vorbeireden. Aber gemeinsam schweigen ist ... ganz nah.  

 

Irgendwann habe ich das Gefühl, dass er jetzt gerne alleine wäre. Er besteht darauf, dass wir gemeinsam mit der Kathedrale fotografiert werden, dabei habe ich nicht viel seines Weges mit ihm geteilt. Ich muss ihn fast dazu zwingen, dass ich ein Bild von ihm alleine mit der Kathedrale machen darf. Schließlich ist das das Ende von SEINEM Weg! Wir drücken uns noch einmal ganz feste ... und werden uns wahrscheinlich nie wiedersehen. Aber wir haben diesen schönen Moment miteinander geteilt.

 

Um 13.00 Uhr gehe ich zum deutschen Pilgertreffen. Das gehört zusammen mit dem deutschsprachigen Gottesdienst morgens und dem spirituellen Rundgang um die Kathedrale abends zu "Ankommen und erwartet werden" - eine ganz tolle Initiative, die von ehrenamtlichen Helfern im Auftrag der Diözese Rottenburg angeboten wird. Ich bin erst noch ein bisschen skeptisch, ob ich das gut finden soll, vor fremden Menschen von meinem Camino zu sprechen. Gut, das muss man wirklich mögen. Aber jeder kann genau so viel sagen, wie er gerne möchte. Es gibt keinen Druck, kein Muss und das schafft ganz viel Platz.

 

 

 

Mein Platz wird vor allem von zwei Menschen eingenommen:

Ein Herr erzählt von einer Begebenheit, die er unterwegs erlebte, und nennt sie "vielleicht nur eine Kleinigkeit". Ich finde das so schade! Nein, nichts ist eine Kleinigkeit, nichts ist unbedeutend, nichts ist wenig wichtig! Genau das ist es doch, was uns im Alltag so abgeht: Dass wir in "kleinen" Dingen Größe sehen, dass wir wertschätzen, dass wir ... ja, dass wir Dinge groß sein lassen, um auch selbst an ihnen zu wachsen!

Eine Dame ist aus einer sehr schwierigen Situation heraus losgelaufen und macht auch jetzt hier in Santiago nicht wirklich einen glücklichen Eindruck.

Camino kann keine Probleme lösen. Er kann unsere Sichtweise verändern, uns eine andere Perspektive zeigen, uns "Oh Käpt'n, mein Käpt'n" auf den Tisch steigen und vielleicht auch unser "barbarisches Yawp über den Dächern der Welt erschallen lassen", aber er kann kein Problem lösen. Aus manchen Situationen kann man durch ihn ausbrechen, aber nicht aus allen.

 

Danach trösel ich vor mich hin, bis ich vor der Kathedrale wieder G. treffe und wir gemeinsam tröseln. Das macht viel mehr Spaß, als alleine! Wir hocken an der großen Treppe zum Portal, gucken Menschen und ich genieße es einfach nur, sie neben mir zu wissen. Nach der schweigenden Nähe mit Andre, ist das quasselnde Nähe, ganz warm und so heimelig.

 

 

Als er zurückkommt, erzählt er uns, er komme aus Palästina, sei in Saint-Jean-de-Port gestartet, mache nur kurz einen Stopp hier in Santiago und gehe gleich weiter nach Finisterre. Aus Palästina! Ich finde es immer wieder unglaublich, aus welchen Ecken dieser Welt sich die Menschen aufmachen, einen Jakobsweg zu gehen! Es ist unfassbar, was für eine Anziehungskraft das Jakobspilgern hat! Australien, Neuseeland, Südafrika, alle möglichen südamerikanischen Länder, USA, Kanada, Polen, Russland, Korea, Japan, ganz abgesehen von den vielen Europäern von ganz im Norden bis ganz ind en Süden - ich bin schon so vielen Nationalitäten hier begegnet, jetzt kommt Palästina mit auf meine Liste.

 

Abends besuche ich noch einmal den spirituellen Rundgang. Gestern hatte ich ja nur das Ende mitgekriegt. Und danach gehen wir in ein Restaurant essen. Aber mir ist irgendwie nicht nach hungrig. ich weiß auch nicht. Der Tag war so voll mit Eindrücken - ich knabbere an den Tapas, die es hier reichlich zu den Getränken gibt, und selbst die sind mir irgendwie zu viel. Ich glaube, ich kriege irgendwie Abschied. Der hockt sich in meinen Bauch und nimmt allem anderen den Platz weg. Wir werden morgen noch den Tag über hier sein, aber das wird anders sein, eben so, wie es kurz vor dem Heimflug ist, nicht mehr ganz hier aber auch noch nicht weg.

 

Morgen werde ich die deutsche Messe wieder verschlafen, den Vormittag noch ein bisschen vertrödeln und mich dann auf den Weg zur Pilgermesse machen ... an der ich wieder nicht teilnehmen werde, weil Petra gerade ankommt. Ich weiß, dass sie gerne alleine ist. Ich weiß aber auch, wie einsam man sich fühlen kann, wenn man ankommt und ganz alleine ist. Darum gehe ich vorsichtig auf sie zu ... um von ihr schneller umarmt zu werden, als ich meine Hände hochbekomme - und das will was heißen, weil im Umarmen bin ich immer ganz fluchs. So darf ich zum Abschied noch einmal den großen Moment der Ankunft mit jemandem teilen. Das ist so wertvoll!

 

Ich freue mich auf Zuhause. Ich freue mich auf Thomas, auf unsere Leben. Ich habe sie so lange nicht gesehen! Ich freue mich auf mein Bett, mein Kissen, meine Bettdecke, auf meine Toilette, meine Dusche. Ich freue mich auf meinen Kleiderschrank, auf frische Unter- und Oberwäsche, die nicht nach wochenlang nur grob mit der Hand durchs Wasser geschüttelt riecht. Ich freue mich auf Schuhe. Auf Schuhe! Ich, die ich fünfmal lieber in Baumärkte als in Schuhgeschäfte gehe! Ich freue mich auf meine Kaffeemaschine und meinen Kühlschrank, darauf, keinen Rucksack mehr zu tragen. Ich freue mich auf unsere Nachbarn, Bekannte in allen Liebgradabstufungen und Freunde. Ich freue mich auf liebe Umarmungen, in denen man einfach nur stillhalten und genießenn kann. Ich freue mich darauf, Essen zu kaufen, ohne überlegen zu müssen, ob ich das bald esse oder lange auf meinem Buckel tragen muss. Ich freue mich darauf, auf meinem Sofa zu fletzen oder in MEINEM Zimmer zu sitzen. Ich freue mich unbändig. Diese drei Wochen waren manchmal ganz schön lang - von mittendrin an gesehen, wenn das Heimweh kommt. Aber jetzt bin ich am Ende und das, was manchmal noch sooo lange vor mir lag, liegt jetzt hinter mir und dieser Camino ist hier zu Ende.

 

 

 

Ich möchte ihn hier nicht verherrlichen: Er war nicht immer nur ein Traum. Er hatte auch seine nicht so schönen Momente, brachte mir Erfahrungen, auf die ich ebenso gut hätte verzichten können, wie auf das eine Zippen dort und den anderen Schmerz im Fuß und die Wolke auf Hospitales und den Sturm auf der Ruta und ... Aber mit unschönen Dingen ist es so wie mit schönen: Wir haben es selbst und ganz allein in der Hand, wie groß wir sie sein lassen, welchen Wert wir ihnen beimessen, ob wir an ihnen wachsen oder unter ihnen zusammensurren. Ratet mal,für was ich mich entschieden habe!

 

Jetzt bleibt mir nur noch, mich bei euch allen zu bedanken. Vielen Dank, dass ihr meinen Blog gelesen und mich so - wenn auch erst im Nachhinein - auf meinem Weg begleitet habt. Ich musste so lachen, als ich meinen ersten Eintrag gerade geschrieben und gleich Rückmeldungen bekommen habe! Heideröslein!, damit hatte ich nicht gerechnet! Und dann habe ich eure Geduld so auf die Probe gestellt. Dafür bitte ich euch noch einmal um Entschudligung.

 

Ganz vielen Dank für alles! Ich weiß noch nicht, wann ich in diesem Jahr wo watscheln werde. Ich weiß aber ganz bestimmt: ich werde und ich werde darüber auch wieder schreiben.

 

 

 

Ich drücke euch ganz lieb und feste

und freue mich darauf,

euch schon bald hier "wiederzusehen"!

Kommentar schreiben

Kommentare: 0